Naturalismus 1880 – 1900

Literatur des Naturalismus

Wie in meist jeder anderen Epoche, sind auch im Naturalismus alle Gattungsarten vertreten: Lyrik, Epik und Dramatik. Jedoch unterscheiden sich deren Anteile literarischer Schöpfungen in verschiedenen Zeitperioden. Zwischen 1880 bis 1885 dominierten neben Theorien und Proklamationen vor allem die Lyrik, von 1885 bis 1890 v.a. Prosatexte und seit den 90er Jahren Dramen und Romane.

1. Begriff
Naturalismus allgemein bezeichnet eine Stilrichtung, bei der die Wirklichkeit exakt abgebildet wird, ohne jegliche Ausschmückungen oder subjektive Ansichten. Der Naturalismus gilt auch als Radikalisierung des Realismus.

2. Herausbildung des Naturalismus
Die Strömung des Naturalismus läßt sich in drei wesentliche Abschnitte gliedern: den Frühnaturalismus (1880-1889), den Hochnaturalismus (1889-1895) und den Zerfall des Naturalismus (1895-?). Es ist jedoch zu beachten, daß die Perioden ineinander überfließen und die Strömung insgesamt schließlich ganz zerfließt.

Im Deutschland bildeten sich zwei Zentren heraus: München und Berlin. Zwei Jahre geben in der Entwicklung des Naturalismus einen entscheidenden Einschnitt: 1885 und 1889. 1885 wurde die Münchener Zeitung Die Gesellschaft gegründet, Arno Holz veröffentlichte seine Gedichtsammlung Buch der Zeit.Lieder eines Modernen. 1889 wurde in Berlin die "Freie Bühne" gegründet, Hauptmanns Vor Sonnenaufgang hatte Premiere.

In den Zentren Berlin und München bildeten sich bestimmte Gruppierungen von naturalistischen Schriftstellern heraus. In Berlin sammelten sich um die Zeitschrift "Kritische Waffengänge" von den Brüdern Hart, Bölsche, Holz und Schlaf. In München bildete sich 1885 eine Gruppe um die Zeitschrift Die Gesellschaft von Conrads, der auch Hermann Conradi angehörte. Zwischen beiden Gruppierungen gab es starke Kontraste. 1886 entstand in Berlin der Verein "Durch!".

Für die Entwicklung des Naturalismus trugen außerdem Auguste Comte und Hyppolite Taine einen entscheidenden Anteil. Comte kam mit Beobachtungen und Experimenten zu einer "positiven" Methode der Analyse, anstatt auf Spekulationen zu vertrauen. Taine sah als Basis für positivistische Experimente die Einheit aus Rasse, Milieu und Moment. Er formulierte diese Aspekte in seiner Milieutheorie.

Arno Holz fand 1891 in seinem Werk Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze. eine Gesetzmäßigkeit in allen Ereignissen. Von ihm stammt die mathematische Formel "Kunst = Natur - x". Das "x", die Differenz aus Natur und Kunst, müsse dabei so klein wie möglich sein, damit die Literatur die Realität möglichst exakt abbildet.

3. Lyrik des Naturalismus
Die wesentlichsten Probleme, die von der naturalistischen Lyrik behandelt wurden, lauten "Soziale Frage" und Großstadt. Obwohl die Großstadtlyrik z.B. schon zur Hälfte des 19. Jahrhunderts in Paris auftrat, wurde das Sujet erst von den Naturalisten lyrisch erfaßt. Die Probleme der urbanen Lebensweise drücken sich in einer Reizüberflutung aus, die bis weit in den Expressionismus hineinreicht. Dabei wird die Großstadt meist als Ort des Elends und Schmutzes wahrgenommen, ein Ort, an dem alle Aspekte der Natur verloren gegangen sind. Dies zeigt sich z. B. im Großstadtmorgen (1886) von Arno Holz. Die soziale Lyrik tauchte meist gemeinsam mit der Großstadtlyrik auf. Ihr Inhalt war meist von scharfer Sozialkritik geprägt.

Als bedeutendster Lyriker des Naturalismus zählt Arno Holz, mit seinem Buch der Zeit (1886). Wichtige Merkmale seiner Lyrik sind Mittelachsenzentrierung, Verzicht auf Reim und Metrik, die den Rhythmus eines literarischen Werkes entscheidend beeinflussen.

4. Naturalistische Prosa
Epischen Kleinformen, wie Skizze, Studie, Novelle, Kurzerzählung, usw. wurden von den Naturalisten vorrangig verwendet. Thema der Prosaformen waren u.a. Auseinandersetzungen mit der Beziehung zwischen Dichter und Proletariat, Großstadt und Industrialisierung.

Eine vollkommen neue Erzähltechnik, die erstmals von den Naturalisten verwendet wurde, ist der Sekundenstil. Mit Hilfe dieser Technik wurde Sekunde für Sekunde Raum und Zeit geschildert, mit dem Ziel der Wiederspiegelung der Realität. Die Bezeichnung Sekundenstil wurde 1900 von Hanstein erfunden. Die Technik des Sekundenstils fand z.B. bei Bahnwärter Thiel von Hauptmann, oder Papa Hamlet von Holz/Schlaf Anwendung. Eine weitere Technik, die man häufig in naturalistischer Prosa antrifft, ist der innere Monolog, der häufig mit den Gestaltungsmitteln des Sekundenstils übereinstimmt.

Gestaltungsmittel des Sekundenstils:

  • photographische und phonographische exakte Wiedergabe der Wirklichkeit
  • kaum auktoriale Erzählweise, vorwiegend personale Erzählweise und Dialoge
  • exakte Darstellung der Dialoge mit allen Wörtern, Wortfetzen, Pausen, Dialekt, etc.
  • annähernd zeitdeckende Erzählung (Erzählzeit = erzählte Zeit) bis hin zum Zeitlupeneffekt (Erzählzeit länger als erzählte Zeit).

5. Naturalistisches Drama

In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde das Drama zum wichtigsten Mittel literarischer Schöpfungen. Die schon in naturalistischer Prosa eingesetzten Techniken, wie Dialekt, Jargon, Milieuschilderung und Sekundenstil, kamen auch im Drama zum Ausdruck.

Das Drama im Naturalismus wurde von vielen Seiten zur damaligen Zeit kritisiert. Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, z.B., sah man als Vermischung von Epik und Dramatik an. Die Handlung im naturalistischen Drama wurde reduziert, im Zentrum stand die Darstellung der Charaktere.

Im Drama des Naturalismus ist die Einheit von Ort, Handlung und Zeit der einzelnen Akte eingehalten. Sie soll die Authentizität des Dargestellten verwirklichen. Die meisten Bühnenstücke haben einen offenen Anfang und offenen Ausgang.

Der Zurückgang des Dramatischen, die Reduzierung der Handlung, die Konzentration auf bestimmte Objekte war der Ausgangspunkt für die Entwicklung des epischen Theaters für Brecht. Das Epische war notwendig, um das Soziale darzustellen.